Peter Howe
Ich liege in einem verdunkelten Raum. Draußen ist es hell, aber die Vorhänge
sind zugezogen, nicht so sehr wegen des Lichtes als wegen der Leute. Ich kann es nicht ertragen, sie in die
Scham und Verwirrung meiner Seele hinein sehen zu lassen, in die Verzweiflung und die Angst.
Ich bin 42. Ich leide seit vierzehn Jahren unter chronischer Erschöpfung. Jetzt ist auch mein alter
Begleiter, die Depression, zurückgekehrt. Sie ist wie ein Berg, der mir den Weg versperrt, eine schwarze
Anwesenheit.
Nach Jahren der Therapien, Tests und Diagnosen wurde mir gesagt, ich sei gesund;
mit mir ist alles in Ordnung. Ich habe nun keine Entschuldigung mehr. Nachdem ich ein Leben lang gewusst
hatte, dass ich schwul war, es mir aber nicht eingestehen wollte, veranlasste die AIDS-Krise der 80er Jahre
mich dazu, ehrlich über mich selbst und die Homosexualität nachzudenken. In jenen Jahren tauchten Ideen
auf, dass AIDS Gottes Urteil über die Homosexuellen sei oder der Weg der Natur, mit unnatürlichen
Geschlechterbeziehungen fertig zu werden. Es ist schwer, das zuzugeben, aber ich erinnere mich, dass ich
diese Ansichten teilte, sie lebten in mir. Erst als ich diese Ansichten als unvernünftig, emotional unreif und
moralisch falsch ablehnte, war es mir möglich, über mich selbst in einer neuen Weise nachzudenken.
Vielleicht war mein eigener Wesenszug doch keine Strafe Gottes und keine Verirrung der Natur. Tatsächlich
war es irrational und moralisch falsch, andere zu verurteilen, warum also mich selbst. Indem ich mich verbarg,
gab ich den Angriffen auf Homosexuelle recht. Ich hatte mein Leben der Hilfsbereitschaft gewidmet und dem
Sich kümmern um andere und dem Geliebt werden und war dabei zu einem Nazi geworden – nicht zu einem
aktiven Verursacher, aber doch zu einem der passiven, stillen Mitläufer, die nichts sagen, sondern alles
geschehen lassen.
In dem verdunkelten Raum habe ich keine Wahl mehr. Dort gibt es nur eins, was
ich tun kann: Ich höre dem zu, was meine Depression mir zu sagen versucht. Ich habe dieser Stimme vorher
noch nie zu gehört, nur unter ihrer schrecklichen Gegenwart gelitten.
Endlich gebe ich zu: Die
Schmerzen, die durch die Verleugnung verursacht werden, sind schlimmer als der Schmerz der Wahrheit.
Ich akzeptiere, dass ich schwul bin. Ich wende mich um. Der schwarze Berg ist hinter mir. Ich mache
einen ersten Schritt in Richtung der Sonne. Ich fürchte mich nicht mehr. Es ist ein schönes Schicksal.Ich bin so
glücklich.
Es ist möglich alles zu tun.
Mich um meine Familie kümmern: Was wird das
bedeuten für meine Frau, meine sechzehn jährige Tochter, meinen vierzehn jährigen Sohn, meinen drei
jährigen Sohn?
Meine Freunde mit einbeziehen: Ich werde entdecken, wer meine Freunde wirklich
sind. Ich werde neue Freunde finden. Es scheint unmöglich, in diesen Jahren einen Lebensgefährten zu
finden, aber ich werde es versuchen. Ich werde mich das erste Mal verlieben. Ich werde mit einem Mann
schlafen. Wir werden eine Weile zusammenleben. Ich werde Kunst studieren.
Es gibt Gefühle zu
erkunden: Die Welt meiner Gefühle wird gerade erst geboren. Ich werde versuchen, authentisch zu leben. Ich
werde weiterhin darum kämpfen zu erwachen. Ich kann den Schmerz, den ich verursacht habe, nicht
ungeschehen machen, aber ich kann ihn anerkennen, indem ich versuche, nach meiner Wahrheit zu
leben.
Es gibt so viel, mit dem ich umgehen muss, mehr, als ich mir hätte vorstellen können, aber ich
habe Kraft, mehr, als ich jemals hatte. Ich habe nie wieder schwere Depressionen; ich leide nie wieder unter
chronischer Erschöpfung.
Mein Leben beginnt. Ich bin 42.